Sklaverei vor der Haustür!

Sklaverei in Göttingen!

(red) Die nachfolgenden Berichte sind der Redaktion von mehreren Fremd- bzw. Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen aus Göttingen zugesandt worden. Sie geben einen vielschichtigen Einblick in die schrecklichen Arbeits- und Lebensverhältnisse ausländischer Arbeiter und Arbeiterinnen vor und nach der Befreiung.

Göttingen, 7. Mai (lg) - Seit einem Monat laufen eine große Zahl ehemaliger Zwangsarbeiter draußen durch das Chaos und die Trümmer. Fast alle Gefangene in den Arbeitslagern und Gefängnissen wurde Anfang April durch den Einmarsch der Allierten freigelassen. Die meisten von ihnen stehen ohne ausreichende Ernährung, Kleidung und Unterkunft, fern ihrer Familie in die Fremde. Besatzungsbehörde und deutschen Behörden versuchen, eine möglichst schnelle Repatriierung aller "Fremdarbeiter" in ihre Herkunftsländern durchzuführen. Aber noch sind dort nicht einmal die Kämpfe eingestellt worden, so z.B. in Teilen von Polen und Tschechien und der Slowakei.

Nachdem wir in einem menschenfeindlichen System von Unterdrückung und Sklaverei zur Arbeit angetrieben wurden, um die Vernichtung von Menschen durch Rüstungsguter für das NS-Regime zu ermöglichen und Konzerngewinne zu erhöhen, werden wir als Opfer schnell zu Täter gestempelt. Um ein Hauptproblem, nämlich die mehrere Tausend ehemalige Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, loszuwerden, verbreiten die Behörden Gerüchte, die den ausländischen Arbeitereinsatz für das Chaos und Krawalle schuldig machen. Wir werden als plündernde und raubende Ausländerbanden dargestellt um unseren raschen Rücktransport zu ermöglichen. Aus Angst vor uns greifen Deutsche uns Ausländer in den Straßen an, prügeln sie und drohen ihnen, sie werden sich mit allen zu Verfügung stehende Mitteln verteidigen. Nicht nur die Wohnungsnot, die mangelnde Lebensmittelversorgung, fehlende Arbeitsplätze für zurürckkehrende Soldaten und Flüchtlinge sollen damit gelöst werden. Wichtiger noch, das Problem der Vergangenheitsbewältigung wird aus dem unmittelbaren Gesichtsfeld gelöscht, wenn es um die Entschädigung für totale Ausbeutung durch ein Versklavungssystem geht, in dem die deutsche Wirtschaft auf Kosten unsere Gesundheit und und sogar unserem Leben profitiert hat. Bei den zukünftigen Gerichtsverhandlungen um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden die Zeugen weit entfernt sein, so daß, wenn schon, nur geringe Strafen verhängt werden können, da die Zeugen fehlen

Die Arbeit ...
Im Ausbesserungswerk

In Göttingen waren von Anfang 1942 bis zu unsere Befreiung vor einem Monat mehr als 3.000 Zwangsarbeiter sowie eine unbekannte Zahl von ausländischen Kriegsgefangenen eingesetzt. Zur Zeit sind die folgende Betriebe und Lager aus offiziellen Berichten der allliierten Truppen bekannt geworden, wo versklavte ausländischen Arbeitskräfte unterbracht, bzw. beschäftigt waren.

- Im Lager Maschpark waren 380 Zwangsarbeiterinnen und im Lager Schützenplatz 480 Frauen und 469 Männer, vor allem sowjetische Zivile und Kriegsgefangene, untergebracht. Die meisten von ihnen arbeiteten beim Reichsbahnausbesserungswerk, dem größte Göttinger Betrieb. Weitere 40 Arbeiterinnen und 30 Arbeiter waren beim Reichsbahnbetriebsamt in der Liebrechtstraße.

- Direkt neben den Aluminum-Werken in Weende liegt ein großes Barackenlager, in dem etwa 400-500 Menschen aus der Sowjetunion, Italien und Frankreich untergebracht waren, die als "Zivilarbeitskräfte" bei den Werken arbeiten mußten.

Weitere sogenannten "Zivilarbeiterlager" finden sich

Auch ein Außenlager des KZ-Buchenwald gab es im Februar 1945.

Ungefähr 30 Häftlinge mußten für die Bauleitung der Waffen-SS und der Polizei Arbeiten in der SS-Kavallerieschule am Lohberg durchführen. Unbekannt ist der Anzahl und Verbleib von zwangsverschleppte polnische und sowjetische Mädchen und Frauen in einigen Göttinger Familien, die als Kindermädchen arbeiten mußten.

Mit den folgenden persönlichen Berichte wollen wir als ehemalige Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter einen Blick auf die alltäglichen Leiden der Sklavinnen und Sklaven des verbrecherischen NS-Regime richten. Daß Niemand jetzt sagen kann, "Wir haben es nicht gewußt", daß Niemand noch sagen kann, "Die 'Gastarbeiter' haben sich freiwillig für Arbeitsplätze angemeldet". Wenn sie uns nicht gesehen hatten, warum haben wir Euch tagtäglich gesehen? Nicht weniger als Millionen Deutsche waren als "Betriebsführer", Aufsichtspersonal, Meister, Vorarbeiter, Lagerführer, Parteigenosse, Nachbar usw. eingespannt, um zu überwachen, jegliche geringe Verstöße der "Fremdvölkischen" anzuzeigen, zur Arbeit anzutreiben, von unsere Arbeit zu profitieren, und so waren sie ein Teil eines faschistischen Systems von Unterdrückung und Versklavung. Nur durch einen bewußten und verantwortlichen Umgang mit der Schuldfrage aller Mitmacher und Mitläufer des NS-Systems könnten die Deutschen mit ihre Vergangenheit umgehen. Und nur dadurch wird es eine Chance geben, eine neue gerechte und freie Gesellschaft und Politik aufzubauen.

Wir rufen alle Zivil- und Kriegsgefangene auf, die zur Zwangsarbeitseinsatz verschleppt und inhaftiert wurden, sowie alle Unterstützer, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Wir müssen uns organisieren, um Entschädigung, Bleiberecht und Gerechtigkeit zu erreichen.

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