Widerstand in Göttingen

Das Beispiel des "Internationalen Sozialistischen Kampfbundes"

Göttingen, 6. Mai (jj) - Fast ein Monat ist es nun her, seit amerikanische Truppen die Stadt eingenommen und die letzten Nazi-Banden vertrieben haben. Dennoch gibt es für viele Menschen offensichtlich keinen Grund, diese Tat als Befreiung vom Nationalsozialismus zu sehen.

Die schlechte Versorgungslage, die strengen Ausgangsbedingungen und die ungewisse Zukunft haben einen "Schockzustand" unter der Stadtbevölkerung hervorgerufen. Ein weiterer Grund, die Amerikaner nicht als Befreier empfangen zu haben, liegt in der jüngeren Vergangenheit Göttingens.

Bereits im September 1930 stimmten hier bei den Reichstagswahlen 37,8 % der Bürger für die Nazis (Reichsdurchschnitt 18,3%) und in der ersten nationalsozialistischen Buchhandlung Norddeutschlands wurde schon in den 20er Jahren antisemitische Propaganda unters Volk gebracht (Völkische Buchhandlung, Paulinerstr. 11). Auch der Terror der Antisemiten setzte in unserer Stadt am 28. März 1933 mit SA-Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte, aus Anlaß eines reichsweiten Boykottaufrufes, früher ein als anderswo. Göttingen konnte mit Fug und Recht als Nazi-Hochburg bezeichnet werden. So fiel die Befreiung für die meisten Göttinger wohl eher als Niederlage aus.

Dennoch gab es auch hier Widerstand gegen das NS-Regime.

Das Spektrum derer, die sich den Nazis widersetzten, reicht von den Bekennden Christen über einige antifaschistische Zellen in den Betrieben bis hin zu Verteilern von Zeitschriften und Flugblättern aus sozialistischen und kommunistischen Gruppen. Auf die Arbeit einer dieser Gruppen wollen wir an dieser Stelle näher eingehen.

Der "Internationale Sozialistische Kampfbund"(ISK) war 1926 aus dem vom Göttinger Philosophen Leonard Nelson gegründeten "Internationalen Jugendbund"(IJB) hervorgegangen. Nach Unvereinbarkeitsbeschlüssen von SPD und KPD konstituierte sich der ISK als eigenständige sozialistische Partei. Nach Nelsons Tod (1927) übernahm Minna Specht die Leitung der Gruppe, Willi Eichler war der Kopf in organisatorischer Hinsicht. Obwohl in Göttingen gegründet, operierte der ISK im gesamten Reichsgebiet und hatte zahlreiche Auslandskontakte (z.B. in die Schweiz, nach Bulgarien und nach China).

Schon 1929 versuchte die Partei, eine Einheitsfront aller linken Gruppen gegen die NSDAP und den Hitler-Faschismus zu organisieren, da die Gefahr von Rechts frühzeitig erkannt wurde. 1931 verlegte Willi Eichler die Zentrale des ISK von Göttingen nach Berlin. Im Feb./März 1933 wurden die Publikationen der Partei, die Monatszeitschrift "isk" und die Tageszeitung "Der Funke", verboten. Danach befand sich der ISK im Untergrund. Willi Eichler und einige andere emigrierten über Paris nach London und koordinierten vom Ausland aus die Widerstandsaktivitäten der Inlandsgruppen. Außerdem wurden Kontakte zu anderen sozialistischen Auslandsorganisationen hergestellt.

In Göttingen gab es seitens des ISK 15 bis 20 aktive Widerständler. Diese arbeiteten in kleinen Gruppen und waren gut organisiert, so daß sie bis 1936 unentdeckt blieben. Ihre Tätigkeit bestand im Drucken von Flugblättern, die in den Straßen verstreut oder an Bäume, Masten und Schilder geklebt wurden. Eine Aktion setzte man zum 1. Mai 1934 um: Ein unter einem Koffer befestigter Stempel hinterließ auf der Straße das Farbbild "Nieder mit Hitler", wenn er abgestellt wurde. Später wurde auch Informationsmaterial in die Betriebe geschmuggelt, das im Exil gedruckt und von London über Amsterdam ins Reich gebracht worden war.

Mitte Januar 1936 wurden 14 Mitglieder des ISK in Göttingen von der Gestapo verhaftet. Wir veröffentlichen hier ihre Namen:

Fritz Körber, Heinrich Westernhagen, Heinrich Oberdieck, Hermann Dettmer, Heinrich Düker, Gustav Funke, Friedrich Henze, August Bartels, Alma Böhme, Willi Macke, Oskar Schmitt, Heinrich Schütz, Karl Probst und Wilhelm Wahle.

Sie alle wurden der "Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens" angeklagt. Die anderen verhielten sich daraufhin weitgehend ruhig oder bereiteten den Wiederaufbau (z.B. der Gewerkschaften) nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft vor. An dieser Stelle dokumentieren wir die Schicksale der verhafteten und von der Gestapo als Führungspersönlichkeiten ausgemachten ISKler Heinrich Düker und Fritz Körber.

Heinrich Düker, Dozent am Psychologischen Institut der Universität, erhielt drei Jahre Gefängnis. Nach seiner Entlassung versuchte er, sich eine neue Existenz in Berlin aufzubauen. Er hielt weiterhin Kontakt zu ISK-Gruppen, wurde aufgrund einer Denunziation 1944 erneut verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Er mußte nach der Räumung des Lagers den sogenannten "Todesmarsch nach Schwerin" mitmachen und wurde, nur noch 40 Kg wiegend, erst vor wenigen Tagen durch die Rote Armee befreit.

Ein Bild von
Der ISKler Fritz Körber

Fritz Körber wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt und danach ins KZ Börgermoor zur Zwangsarbeit verschleppt. Nach seiner Entlassung wurde sein Sohn, ein überzeugter Pazifist, als Soldat an die Ostfront eingezogen, von wo er nicht mehr zurückkehrte.

Auch einer KPD-Widerstandsgruppe gelang es, ihre Arbeit bis 1936 aufrechtzuerhalten. Schließlich wurden sechs Männer und Frauen festgenommmen und in "Schutzhaft" gesetzt. Einer der Verhafteten, Gustav Kuhn, hatte bereits 1933 wegen seiner politischen Einstellung eingesessen und wurde nun ins KZ Dachau überwiesen. Dort soll er erst vor wenigen Tagen befreit worden sein.

Die Sozialdemokraten bildeten bei Feinprüf eine antifaschistische Zelle um Felix Kraft.

Wer weitere Informationen über Aktivitäten anderer Widerstandgruppen hat, möge sich bitte bei uns melden.

Von dieser Stelle solidarische Grüße und beste Genesungswünsche an die Genossen Düker und Kuhn. Wir freuen uns auf ihre Rückkehr. Weiterhin fordern wir die Einsetzung eines demokratischen und sozialistischen Stadtrates und antifaschistischer Ausschüsse als einziger Möglichkeit, die Verantwortlichen für alles Geschehene zu benennen und einen wahrhaft demokratischen Neuaufbau zu ermöglichen.

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