"Es war eine schlimme Zeit ..."

- Aus unseren Dörfern an der Weser

Vernawahlshausen/Göttingen, 7. Mai (red/tp) - Ein uns wohl bekannter Genosse, der hier im Reichbahnausbesserungswerk arbeitet, stellte uns seine Tagebuchaufzeichnungen der vergangenen Monate zur Verfügung. Wir zitieren einige Abschnitte mit der Absicht, zu zeigen, welche innere Bewegung bei manchen Genossen herrschte. Wir weisen aber auch darauf hin, daß nicht alle von uns aus der Arbeiterbewegung ohne jede Schuld sind. Dennoch wären es mehr Menschen wie unser Genosse gewesen, die zumindest in der inneren Opposition waren, hätte es nicht so kommen müssen. Er gibt uns auch einen ersten Bericht von den Dörfern, in denen viele unserer Eisenbahnarbeiter wohnen.

10.10.43: "Es war eine schlimme Zeit (seit 1933) für alle, die anderen Sinnes waren, und es ist alles so gekommen, wie wir es immer wieder gesagt haben, ja noch viel schlimmer. Und alle die, die zuerst auf Adolf Hitler geschworen haben, die möchten es nun gerne anders haben, aber das ist nun zu spät. Nun müssen wir dies alles zusammen ausbaden. Schuldige und Unschuldige ... Es stehen jeden Tag Todesurteile in der Zeitung wegen Zersetzung und Hetzerei. Kein gutes Zeichen. Nun, wir werden ja sehen, wo das hinführt ..."

26.10.43: Nach dem Angriff auf Kassel schrieb er: "Die Zahl der Toten soll 30.000 übersteigen ... Ist das nicht furchtbar? Klingt es da nicht wie Hohn, wenn die Führung sagt: `Wir werden nach jedem Angriff härter. Ich habe noch nicht einmal gehört, daß ein Gauleiter unter den Toten ist. Warum nicht?"

"Die Menschen ... werden verschleppt wie Sklaven, weit, weit weggebracht zum Arbeiten, werden ihre Heimat nie mehr sehen. Aus Rußland, Holland, Belgien, Frankreich usw. ... Das ist die Kultur des Abendlandes! Heraufbeschworen von Männern, man kann es nicht anders nennen, die wahnsinnig sind. Kommt es wirklich darauf an, daß ein Land reicher ist als das andere? Oder wäre es nicht doch richtiger, erst und vor allen Dingen den Menschen und den Arbeitern ihr Los zu erleichtern. Diese Ärmsten der Armen, von denen alles Glück und aller Wohlstand auf Erden erarbeitet wird, und der dafür nur den Bruchteil erhält und zu immer größeren Leistungen getrieben wird. Wie wird es enden? ..."

16.1.44: "Die Stimmung ist so, daß jeder wünscht, der Krieg wäre lieber heute vorbei als morgen ... Wir sind trotz aller Propaganda kriegsmüde geworden, und nur die eiserne Gewalt hält uns aufrecht und vielleicht auch das Ungewisse, was nachher wird ..." (Anm. des Redaktionsmitglieds tp.: Je mehr Du dich dem System widersetzt hättest, desto mehr hättest Du wissen können, in welche Richtung es gehen wird. So hast Du wahrscheinlich allein auf die Befreiung von außen gewartet!

20.8.44: "Es werden immer mehr Leute eingezogen und auch wir von der Bahn warten jeden Tag auf unseren Stellungsbefehl. Nirgends ein Lichtblick. Alles, was irgendwie nach Umfallen aussieht, wird verhaftet. Vor einigen Wochen sind viele Männer, die einmal in der SPD irgendeine Rolle gespielt haben, verhaftet worden ... Unter ihnen war auch ... ein Sangesbruder von uns ..."

24.10.44.: "Heute waren die Flieger wieder in Bodenfelde ... Wir rechnen jeden Tag mit einem Angriff auf Göttingen. Wunder geschehen nicht mehr ... (Anm. tp.: Auf welche Wunder hast Du denn noch gewartet? Auf die Vergeltungswaffen?) und so gehen wir langsam dem Untergang entgegen. ... Die Hoffnung auf Vergeltungswaffen wird nun so langsam aufgegeben. ..."

19.11.44: "Auf unserem Werk arbeiten jetzt 2800 Männer, davon sind wohl 2000 Ausländer ..."

24.1.45.: "Es mehren sich die Fälle, wo führende Männer von einem Standgericht erschossen werden, weil sie kneifen wollen in der Stunde der Gefahr. Das fehlt uns noch, daß diese Herrschaften uns in der Stunde der Gefahr in der Tinte sitzen lassen ..."

20.2.45: "Jetzt wird in den Zeitungen geschrieben: Aushalten, die Feinde wollen uns vernichten und verschleppen. Ja, wir haben doch genau dasselbe gemacht in den Ländern, wo wir waren ..."

31.3.45: "Ich sitze allein hier im Werk. Meine Kameraden sind alle nach Hause gefahren. Ich will heute nacht fahren ..."

23.4.45: "Nun bin ich schon sechs Tage zu Hause. Hier ist die Besetzung noch friedlich abgegangen. ... Den Ortsgruppenleiter haben die Amis verhaftet, aber den anderen ist noch nichts geschehen, der Bürgermeister ist auch noch im Amt. Die Partei und alle Nebenstellen sind aufgelöst, was sein wird, müssen wir erst einmal abwarten. Der Krieg ist ja noch nicht vorbei."

26.4.45: "Alles ist verloren, aber diese Verbrecher sind anscheinend zu feige, sich die Kugel durch den Kopf zu schießen. (Anm. tp.: Nun, Genosse, wenigstens das hat Adolf dann doch getan!). Wir, die wir wohl die Vernünftigsten unter den Arbeitern sind, wollen den guten Willen beweisen und ein neues Deutschland aufbauen, wo es nie wieder ein Militärregiment geben darf. Es ist einfach furchtbar, was alles in den Konzentrationslagern geschehen ist, daß es deutsche Menschen waren, die diese Folter ersannen und anwendeten. ... Jetzt wollen sie alle hier nicht dabei gewesen sein ..."

1.5.45.: "Die einzigen, die wieder freier atmen können, sind wir, die wir, die wir 12 Jahre dieses Joch ertragen haben, am schwersten wohl ... Nun ist auf einmal alles vorbei , sie haben sich in alle Winkel verkrochen, die vorher die große Schnauze hatten. Es ist schade, daß wir den F. nicht bekommen können. Es sind aber noch andere da, und hoffentlich machen wir die Abrechnung gründlich und richtig in unseres Freundes Namen. Nie wieder werden wir die Schande von Deutschland abwischn können, die die Verbrecher angerichtet haben."

7.5.45: "Der Krieg ist aus! Heute wurde in Reims die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet ... Dieser Krieg hätte vermieden werden können, wenn Deutschland demokratisch geblieben wäre und sich keine Führer gewählt hätte, die den Krieg von Anfang an als unvermeidlich propagiert haben. Nun sind sie alle nicht mehr da, und die Überlebenden müssen alle Schuld auf sich nehmen und sehen, wie sie damit fertig werden."

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