Leserbrief eines Göttinger Arbeitersportlers

"Nicht länger Reaktionären Gefolgschaft leisten"

Genossen! "Frisch - frei - stark und treu" turnten und radelten die Arbeitersportler bis 1933. Wir verstanden uns als Sport- und Turnkameraden, aber ebenso als Klassenkämpfer. Unser Ziel war nicht Leistung oder das Streben nach immer mehr im Konkurrenzkampf gegeneinander, sondern das solidarische Miteinander, die Freude am Turnen und Sport war unser Ziel. Die Arbeiterolympiaden waren gelungener Ausdruck dieses Bemühens.

"Nicht länger Reaktionären Gefolgschaft leisten" war schon unser Wahlspruch bei der Gründung der Arbeiterturn- und Sportbewegung im Mai 1893 in Gera. Insgesamt mehr als eine Million Sportler versagten sich den bürgerlichen Sportvereinen und trieben bis 1933 als freie Arbeiter und Arbeiterinnen ihren Sport. Wir nahmen so manchen Nachteil gegenüber einer Vereinsmitgliedschaft im bürgerlichen Sport oder Betriebssport in Kauf. Und doch konnten wir in unseren Reihen mit dem Radsportbund "Solidarität" den größten Radsportbund der Welt vorweisen. Unsere 1926 eingeweihte Bundesschule in Leipzig zählte - von Arbeitergroschen erschaffen - zu den am besten ausgestatteten und an die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft angebundenen Ausbildungsstätten der Welt. Die braunen Horden plünderten auch sie, konfiszierten unseren Besitz, verboten die Vereine des Arbeitersports. Vielen widerfuhr noch weit Schlimmeres. Für die vielen unserer Turnbrüder und Sportkameraden, die als Gegner des Naziterrors ihr Leben ließen, sei der Ringer Werner Seelenbinder genannt. In unserer Erinnerung und durch unsere Taten werden sie alle fortleben.

Doch jenseits der vorbildlichen, unnachgiebigen Haltung einiger darf der Blick nicht von dem Verhalten des größten Teils der ehemaligen Arbeitersportler gewendet werden. Viele von uns spielten und turnten nach 1933 in Vereinen, die sich unter dem traditionellen antijüdischen Rassenwahn und dem 1933 selbstgleichgeschalteten Führerprinzip der "Deutschen Turnerschaft" sammelten. Es steht zu befürchten, daß vor allem unter den Jüngeren im Laufe der letzten zwölf Jahre viele Verbindungen zu den Idealen des Arbeitersports verloren gegangen sind. Viele, vielleicht die meisten der Arbeiter und Arbeiterinnen richteten sich ein; spielten und turnten mit - ganz wie im richtigen Leben.

Trotzdem sollten wir es wagen: Für die unmittelbare Zukunft muß unsere Kraft als Arbeitersportler und Arbeitersportlerinnen auf folgende wichtige Forderungen konzentriert sein, soll der freie Sport in der Zukunft wieder möglich sein:

- Entschädigung für alle zerstörten und Rückgabe aller durch die Faschisten beschlagnahmten Grundstücke, Gebäude und Ausrüstungsgegenstände, die dem Arbeitersport wider jedes Gesetz geraubt wurden.

- Überwindung der unsäglichen Spaltung der Arbeiterklasse, die auch bei den Arbeitersportlern ihren Niederschlag fand. Die Spaltung war eine Waffe in der Hand der Reaktion.

- Hinweg mit den faschistischen Turnführern: Karl v. Halt, Guido von Mengden und dem den Nationalsozialisten stets dienstbaren Carl Diem.

- Wiederbegründung eines freien Arbeitersports.

- Schulterschluß mit den "Naturfreunden", der "Grünen Garde" der Arbeiterbewegung.

- Sicherstellung der traditionellen Unabhängigkeit auch eines zukünftigen Arbeitersports gegenüber jeder Form der parteipolitischen Vereinnahmung.

Genossen, Arbeitersportler: Auch wenn die Probleme in den Betrieben oder die Sorge um unsere Familien groß sein mögen, wenn wir es jetzt nicht schaffen, für den freien, selbstbestimmten Sport einzutreten, so wird uns die Reaktion ein weiteres Mal das Gesetz des Handelns entreißen.

"Frisch - frei - stark und treu" müssen wir nach dem Zusammenbruch des Hitlerfaschismus unser Werk errichten.

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