Der Verlust an Weltkultur

- Von Günther Weisenborn -

Unser Volk hörte nicht auf seine Dichter, es hörte auf die gestiefelten Scharlatane, denn diese besaßen Blechmusik, und unser Volk war die Begriffe des militanten Kapitalismus gewohnt, während die Dichter und Redner der neuen Zeit ihm sehr neuartige Begriffe beizubringen versuchten. Welche begabte Schar, welche mitreißenden Männer: diese Dichter! Und welches Elend wartet auf sie, auf Walter Hasenclever, Stefan Zweig, Kurt Tucholsky, Ernst Weiß, die alle wie Ernst Toller in der Verbannung, von ihrer Heimat verflucht und ausgebürgert, Selbstmord begingen.

Es ist eine furchtbare Liste, die nur allmählich bekannt wird die Totenliste der deutschen Literatur in der Emigration.

Im Exil starben: Bruno Frank, Sigmund Freud, Stefan George, Helmut von Gerlach, Alfons Goldschmitt, Franz Haessel, Werner Hegemann, Artur Holitscher, Ödön von Horvath, Arno Höllriegel, Georg Kaiser, Harry Graf Keßler, Monty Jakobs, Robert Musil, Max Hermann-Neiße, Rudolf Olden, Josef Roth, Arthur Ernst Rutra, René Schickele, Else Lasker-Schüler, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Alfred Wolfenstein, Raul Zech.

Hier im Land starben eines furchtbaren Todes: Egon Friedell, Ernst Blaß, Reinhard Goering, Erich Kauf, Adam Kuckhoff, Erich Mühsam, Carl von Ossietzky.

Ein Bild von ...
Ernst Toller (1893 -1939)

Welche Verwüstung von Genie, Kraft, Reinheit, die herrlichen Prosaisten, die ergreifenden Lyriker, die glänzenden Dramatiker:

Unsere Nation, die Goethe ständig im Mund führt, verlachte, verstieß sie, tötete sie in barbarischer Vergeudung. Hier liegt das schrecklichste Sensenfeld des deutschen Geistes. Sie würden alle zu uns sprechen, uns leiten, uns die Wege weisen, sie sind tot und kaum ein anderes Volk der Ehre wird solche Verluste in seiner Literatur haben.

Jetzt ist es an uns, da die Klügeren, Erfahreneren, die Älteren dahingegangen sind, das Erbe der verwaisten Stühle der Literatur anzutreten. Wir schauen uns in all dem Jammer um und suchen die Beispiele in dieser beispiellosen Zeit. Wir, die nachrückende Generation, die jetzt in Amt und Aufgabe hineinzuwachsen hat. Wir sind gehärtet im Krieg, geklärt nach mancher Wirrnis, und von Toten umgeben, die uns ständig zur Seite gehen und mit uns die unsichtbaren Dialoge der späten Erkenntnis führen. Wir suchen die Beispiele, sage ich, und ein Beispiel war Toller.

Es waren die Dichter, die gewarnt haben. Das stelle ich vor der Geschichte fest. Und wir sollten aus diesem gewaltigen Spiel die eine, die notwendige, die entscheidende Erfahrung ziehen: Hört auf die Dichter!

Es gibt einen Todfeind des Menschen in der Welt, das ist der Militarist, und es gibt einen Todfeind der deutschen Dichtung, das ist die "Deutschland-über-alles-Literatur".

Und ich glaube, im Namen aller verantwortlichen Denkenden zu sprechen, wenn ich meine Stimme erhebe, um sie zu rufen.

Hier im Elend rufen wir feierlich die Schriftsteller unserer Nation!

Wir bitten um ihre Rückkehr aus allen Ländern der Welt:

Stefan Andres, Ernst Bloch, Berthold Brecht, Hermann Broch, Ferdinand Bruckner, Friedrich Burschell, Albert Ehrenstein, Lion Feuchtwanger, Leonard Frank, Maria Gleit, Oskar Maria Graf, Paris Gütersloh, Heinrich Hauser, Wieland Herzfelde, Hermann Hesse, Richard Huelsenbeck, Alfred Kerr, Kurt Kläber, Joe Lederer, Rudolf Leonhard, Harald Landry, Ludwig Marcuse, Thomas Mann, Heinrich Mann, Walter Mehring, Paul Meyer, Joachim Maas, Hermynia zur Mühlen, Alfred Neumann, Robert Neumann, Balder Olden, Heinz Pol, Hans Josef Rehfisch, Erich Maria Remarque, Anna Seghers, Albrecht Schaeffer, Maximilian Scheer, Herbert Schlüter, Wilhelm Speyer, Fritz von Unruh, Bodo Uhse, Berthold Viertel, Ernst Waldinger, Otto Zoff, Arnold Zweig und alle anderen, deren Namen uns noch nicht erreicht haben.

Es ist das andere Deutschland, das ruft.

Wir, die wir gegen Hitler gekämpft haben, schicken unsere Stimme über Grenzen und Meere und rufen sie, damit sie uns helfeni n der schwersten Stunde dieses Volkes, zu dem wir im Elend uns bekennen.

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