Von Göttingen nach Bergen-Belsen.

Einer der wenigen Überlebenden berichtet

Von Heinz Rosenberg

Stockholm, 7. Mai - Göttingen ist eine Stadt, wo ich ich im Jahre 1921 geboren wurde und meine Kindheit verbrachte. Meine ersten Erinnerungen sind aus der Zeit, als meine Eltern Fritz und Else Rosenberg mit meinen Geschwistern in der Schillerstraße 26 gewohnt haben. Mein Vater, im Jahre 1881 in Göttingen geboren, war mit seinen Brüdern Otto und Ernst der Inhaber der Leineweberei S & A Rosenberg, die von meinem Großvater Albert mit seinem Bruder Siegfried im Jahr 1872 gegründet wurde.

Die Familie Rosenberg war eine alteingesessene Familie und bildete mit den anderen jüdischen Familien Gräfenbergs, Hahns, Kahns, Meininger, Löwenstein, allen Verwandten und Bekannten eine große, Jüdische Gemeinde, die viel Gutes für Göttingen getan hat. Meine ersten Erinnerungen gehen zurück an meine Eltern und Geschwister, an unsere Wohnung, unseren Garten und vor allem an meine Großmutter Anna Rosenberg, der die Liebe für die Familie und die Stadt aus den Augen strahlte. Ich denke auch an die Scharlach-Epidemie im Jahre 1928, wo eine gute Ordensschwester mich und andere Kinder pflegte; mit ihr habe ich noch heute Verbindung. Es war ein gutes, freundliches Leben in der Stadt des Gänselieselbrunnens, Spaziergänge am Sonntagmorgen auf dem Wall oder zur Plesse, zum Nicolaihof oder zur Stegemühle.

Antisemitismus in einem Dorf bei Götingen
"überall Schilder..." In einem Dorf bei Göttingen

Göttingen war eine große Universitätsstadt mit einer Garnison, und bereits im Jahre 1930 fing der Nationalismus1 und Antisemitismus an. Man sah schon ab und zu braune Hitler-Uniformen, Juden wurdem angepöbelt, verhauen und der Haß gegen uns wurde schlimmer. Als Hitler 1933 an die Macht kam, war Göttingen eine Stadt mit jubelnden Menschen, Nazifahnen überall, und über Nacht wehte ein neuer, aber grausamer Wind. Juden wurden aus ihren Häusern heraus geworfen, wurden verprügelt und ins Gefängnis geworfen, durften nicht mehr in der Stadtverwaltung oder Universität arbeiten. Der erste Boykott gegen jüdische Geschäfte war schon 1933.

Die Firma S & A Rosenberg wurde sofort von der Stadt übernommen und "arisiert", an eine deutsche Firma verkauft und in "Göttinger Leineweberei" umgetauft. Mein Vater durfte das Gelände nicht mehr betreten und Anfang 1934 mußten wir Göttingen verlassen, nachdem drei SA-Leute in unsere Wohnung kamen und meinem Vater drohten, er solle innerhalb von vier Wochen die Wohnung und Göttingen verlassen, oder sie würden ihn und die Möbel aus dem Fenster werfen. Da sie schon die Wohnung von Hahns zerstört hatten und Herrn Hahn herausgeworfen hatten, mußten wir umziehen. Wir zogen nach Hamburg und hofften, die Zeiten würden sich bessern, aber leider war das Gegenteil der Fall. Jedes Jahr kamen neue Gesetze gegen die Juden. Mein Vater und viele andere Juden durften nicht mehr arbeiten, wir konnten nicht mehr in Restaurants oder ins Theater gehen, überall waren Schilder: Juden nicht erwünscht. Mein Bruder Curt wurde schon im November 1938 verhaftet und nach Sachsenhausen gebracht. Das Leben in Deutschland wurde für uns zum Unleben.

Als der Krieg im Jahre 1939 ausbrach, wurde uns sogar das Unleben unmöglich gemacht. Wir mußten den Judenstern tragen, durften nur in bestimmten Geschäften kaufen, bekamen nur wenig Rationen und mußten Zwangsarbeit leisten. Alle Gold- uns Wertsachen sowie Konten wurden beschlagnahmt, wir durften keine Radios, Telefone oder Autos haben und hatten Ausgehverbot von abends 8 Uhr bis morgens 6 Uhr. Es gab auch keine Möglichkeit mehr auszuwandern, wir waren schon gefangen.

Und so begannen im Jahre 1941 die Transporte nach Osten; der erste Transport von Hamburg mit 1.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern ging im Oktober 1941 nach Lodz. Meine Familie, meine Frau Erika und ich wurden am 8. November 1941 nach Minsk deportiert. Wir mußten alles hinterlassen, durften nur 10 Reichsmark und einen kleinen Koffer mit Kleidung mitnehmen und mußten unterschreiben, daß wir "Feinde des Deutschen Reiches" keinen Anspruch auf unser Vermögen erhöben und keine deutschen Bürger mehr seien. Der Transport nach Minsk dauerte 3 Tage in alten, kalten Waggons ohne warmes Essen oder die Möglichkeit, den Zug zu verlassen.

Die deutsche Wehrmacht, SS und andere Truppen hatten nach der Besetzung in dem schlechtesten Stadtteil von Minsk ein Ghetto für ca. 100 000 russische Juden errichtet. Unser Transport war der erste der deutschen Juden, dann wurden sechs weitere Transporte von verschiedenen Städten ausgeladen, jeder mit 1000 jüdischen Menschen, aber die Menschen aus den nächsten 16 Transporten wurden bei der Ankunft gleich erschossen oder vergast. Das Leben im Ghetto von Minsk war die Hölle auf Erden, die furchtbare Kälte, keine Heizung, kaum etwas Essen, keine Waschgelegenheiten oder Toiletten, keine Medizin und jeden Tag das Ermorden unschuldiger Menschen. Bei Eis und Schnee mußten wir in unserer dünnen Kleidung die schwerste Arbeit ausführen und lebten ständig mit dem Tod an unserer Seite.

Nach zwei Jahren, am 1. September 1943, lebten nur noch 2.500 Juden im Ghetto, von denen die SS 250 Männer zum Weitertransport aussuchte. Der Rest der Menschen wurde kurz danach ermordet, unter ihnen meine Eltern, meine Schwester und meine Frau Erika. Es war den Deutschen gelungen, innerhalb von zwei Jahren 135.000 Juden zu ermorden bzw. die Stadt Minsk durch Hunger, Erfrieren, Krankheiten, Massen- oder Einzelaktionen "judenfrei" zu machen. Wir, die 250 Männer, wurden durch viele Todeslager und Konzentrationslager geschleppt und fast zu Tode gearbeitet, mißhandelt, geprügelt, bestraft, immer mit dem Tod unter uns. Die Arbeit dauerte immer 12 Stunden, Appell um fünf Uhr morgens, kein gutes Essen, nur dünne Haftkleidung etc., keine Sauberkeit und keine Hoffnung.

Bergen-Belsen, das Inferno aller Infernos. Kein Essen für Wochen, Typhus, 30.000 tote Häftlinge lagen herum, wir schliefen auf den Toten, lebten mit lebenden Skeletten und sahen unsere besten Kameraden sterben. Auch ich war ein Skelett, 35 Kilo, verhungert, verlaust, verzweifelt, aber mit meiner letzten Kraft konnte ich noch am 15. April den Einzug der britischen Tanks sehen, der Tag unserer Befreiung. Nur 20 Männer aus Minsk hatten die Strapazen überlebt.

1 Vielleicht meint Rosenberg hier auch Nationalsozialismus.

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