Kriegsende in Moringen

Von Wilhelm Prasse

Moringen, 8. Mai. - Meine Klasse hatte großes Glück gehabt: Wir 14/15jährigen waren doch nicht als Flakhelfer eingezogen worden. So blieben wir im Kinderlandverschickungslager, aus dem unser Lagerleiter uns erst entließ, als schon kein Zug mehr fuhr, und unser Hauslehrer, ein fanatischer Nazi, sich heimlich vor den herannahenden Panzern verdrückt hatte.

Auf der offenen Ladefläche eines Lastwagens gelangte ich im Schutze der Nacht, von Tieffliegerangriffen unbehelligt, bis Northeim und von dort zu Fuß nach Moringen. An das dortige Jugend-KZ war mein Vater von der Gestapoleitstelle Hannover versetzt worden. Wir hatten eine kleine Wohnung, und dort fand ich nun meine Mutter und meine 18jährige Schwester, die als "Kriegshilfsdienstmaid" in einer Munitionsfabrik gearbeitet hatte, bis die Front näher rückte. Der Vater war nach Kiel versetzt worden, und wir drei überlegten, was vor dem zu erwartenden Einmarsch der Amerikaner zu tun sei. Es war genug Zeit, einiges für immer verschwinden zu lassen: das Abzeichen meiner HJ-Mütze, Fotos von Parteigrößen, Naziembleme und -bücher. Das Wenige, war wir hatten, war schon in Hannover verbrannt: das obligatorische Führerbild im Wohnzimmer, Hitlers "Mein Kampf" - ungelesen - und meine Sammlungen von Flugzeug- und Schiffsmodellen, von Abzeichen des Winterhilfswerks, mein Braunhemd. Als ich einen Bekannten seine Wertsachen einmauern sah, wußte ich nichts, was wir hätten verstecken müssen.

Am 9. April, einen Tag, nachdem die letzten deutschen Truppen kampflos - wie wir gehofft hatten - Moringen verlassen hatten, standen wir alle in der Hauptstraße und warteten auf den Einzug der Amerikaner, die kurz vor der Stadt sein sollten. Es war ein Vormittag, an dem in Deutschland noch viele Menschen starben: als Soldaten, als Flüchtlinge, als Bombenopfer, als KZ-Häftlinge oder als zum Tod Verurteilte wie Dietrich Bonhoeffer. Und wie empfingen wir nun den Feind, wir, die wir in der Mehrheit vor Stalingrad noch gern an die Parolen von der Überlegenheit des deutschen Militärs, unserer politischen Führung, des deutschen Volkes und der arischen Rasse über alle anderen geglaubt hatten? Wir standen Spalier, und der anschwellende Motorenlärm der von Hardegsen heranrollenden Panzer flößte uns weder Angst noch Schrecken, weder Wut noch Haß ein, allerdings auch keine Freude oder gar Jubelstimmung. Wir hatten ja den Krieg verloren und hätten eher Grund gehabt, wenigstens über die nun offensichtlich sinnlos gewordenen Opfer an Menschenleben zu weinen. Aber was uns auch innerlich bewegte - wir begrüßten die Amerikaner mit unbewegtem Gesicht, schweigend: nicht feindselig, eher neugierig, abwartend, offen für menschliche Begegnungen. Wir fühlten: Das ist das Ende des Krieges für uns und zugleich das Ende des "Dritten Reiches". Bei aller Ungewißheit über die Zukunft habe ich die Besetzung Moringens als Befreiung erlebt von einer immer mehr als verbrecherisch erkannten Gewaltherrschaft, die ich als 13jähriger nur vom Gefühl her, als 14jähriger auch vom Verstand her innerlich als unmenschlich ablehnte.

Wieder zu Hause, beeindruckte mich die Menschlichkeit der Besatzung des Panzers, der vor unserer Haustür stand. Sie saß bereits am Küchentisch und unterhielt sich angeregt mit meiner Schwester. Beim Durchsuchen der Wohnung fiel einem Soldaten eine Mundharmonika auf, und auf seine Bitte spielte ich ein Volkslied, was ihm sehr gefiel. Wir waren nicht ihre Feinde und sie nicht unsere, obwohl sie vielleicht schon am gleichen Tage kämpfen - töten oder sterben - würden.

Zwei Wochen vorher hatte ich noch mitgeholfen, aus Baumstämmen Panzersperren zu bauen, an deren Wirkung wohl keiner glaubte, und nun war ich hinter der Front - wie in einer anderen Welt, genoß die schulfreien Tage, knüpfte Freundschaften mit den Nachbarskindern an und las - wenn abends die Ausgangssperre begann - die von der Besatzungsmacht herausgegebene Zeitung, die für mich glaubwürdiger war als vorher die vom Reichslügenminister kontrollierten Nachrichten. Und doch kam die Nachricht vom Tode Hitlers für mich unerwartet: Der "Führer" hatte im Gefühlsleben - und das sollte er ja auch - den Platz Gottes eingenommen und war unsterblich. Aber die Götzendämmerung war unaufhaltsam: Volk und Vaterland, Blut und Ehre, Nation und Rasse, Deutschland und die Fahne - alles, was heilig, mythisch verklärt, unantastbar war, verlor seinen Glanz, seinen Ewigkeitswert, seine Verführungskraft, die so viele Menschenopfer gefordert hatte und immer noch forderte.

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