Lagerzögling 933 aus Moringen erinnert sich:

"Für mich ist der 8. Mai am 11. April"

Kriegsende eine Frage der Geographie

Von Erwin und Marie-Elisabeth Rehn

Rheinberg/Moringen, 8. Mai. - Auf einem Steinmäuerchen sitzt ein hochaufgeschossener Junge. Die knochigen Schultern, die sich unter der fadenscheinigen grauen Jacke abzeichnen, vornübergebeugt, baumelt er vergnügt mit den Beinen. Unterhaltend genug ist die Szene, die sich vor ihm auf dem Bauernhof bei Rheinberg abspielt. Ein amerikanischer Offizier schießt mit Leuchtkugeln in die Luft. Versehentlich oder nicht, ein Schuß geht daneben und trifft ausgerechnet einen der anderen Feiernden ins Hinterteil. Schnell muß der Verletzte, ein junger Farbiger, von einem Arzt versorgt werden. Der Zwischenfall hat weiter keinen Einfluß auf die allgemeinge Hochstimmung.

Es ist der 8. Mai 1945. Die Alliierten feiern die Kapitualtion des verhaßten Nazi-Regimes. Der magere Junge grinst verschmitzt und meint: "Für micht war alles schon am 11. April vorbei, als wir zum ersten mal auf Amerikaner trafen."

Wenn man dem Jungen zuhört, kann man nur staunen. Er ist gerade 18 Jahre alt geworden und hat schon viel erlebt, was ihn von vielen Altersgenossen, die allenthalben verdutzt und verstört ("Der Führer ist tot!") in ihren Flakhelfer- und anderen Uniformen herumlaufen, unterscheidet. Er hat die letzten Jahre seit Sommer 1943 in Moringen verbracht. Und das hieß für diesen Jungen Stacheldraht, brüllende und prügelnde SS-Männer, Hunger und Schwerstarbeit. Kurz, der Name steht für ein Dasein, in dem Menschenwürde nicht existierte und in dem der Junge nur noch "Lagerzögling 933" hieß. In den letzten Kriegsmonaten mußten die Moringer Häftlinge in den alten Kalischächten von Volpriehausen unter Lebensgefahr mit Munition hantieren. All dies vermischt sich jetzt in den Erinnerungen des 18jährigen.

Eigentlich stammt er aus Heide in Schleswig-Holstein, und der Junge brennt darauf, nach Hause zurückzukehren. Er weiß nicht, ob seine Eltern noch am Leben sind, und er möchte dem Mann gegenübertreten, der dafür sorgte, daß in der Moringer Häftlingskartei der Vermerk "Rückkehr unerwünscht" stand. Der Junge hatte in der Ausdrucksweise der Gestapo "mit Ausländern konspiriert" und war deswegen in das sogenannten Jugendschutzlager in Moringen eingewiesen worden.

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