Aufruf des "Bund der "Euthansie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten, Überlebende der rassischen Verfolgung", erschienen in der "Frankfurter Rundschau" vom 11.4.95.

Überlebende der NS-Verfolgung fordern Entschädigung

Wir sind Kinder und Jugendliche von damals: Unsere Mütter und Väter wurden nachgewiesenermaßen aus sogenannten "rassenhygienischen" Gründen ermordet. Wir wurden in Schule und Gesellschaft als erbkranker Nachwuchs diskriminiert und benachteiligt. Durch die psychischen Traumata infolge der Tötung von Mutter und Vater - viele von uns erfuhren oder erahnten die tatsächlichen Sachverhalte - ergaben sich Beeinträchtigungen unserer psychischen Entwicklung in Kindheit und Jugend. Durch den Verlust der potentiellen Ernährer ergaben sich schwerwiegende Benachteiligungen finanzieller Art hinsichtlich der Schul- und Berufsausbildung für das gesamte Leben.

Wir sind Kinder und Jugendliche von damals, die aus "rassenhygienischen" Gründen zwangssterilisiert wurden. Dieser tiefgreifender Einschnitt hat schwere psychische Traumata verursacht. Wir wurden durch Staat und Gesellschaft in unserer Gesamtentwicklung stark beeinträchtigt. In der Schul- und Berufsausbildung waren wir schweren Einschränkungen unterworfen; so durften wir keine weiterführenden Schulen besuchen, wir durften unseren Ehepartner nicht frei wählen, sondern nur einen zwangssterilisierten Menschen heiraten. Für Täter und Opfer galt absolute Schweigepflicht. Bis heute leiden wir unter gesundheitlichen und seelischen Schäden als Folgen des Eingriffs von damals.

All das geschah uns "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten auf der Grundlage der "rassistischen" Ideologie. Die Schlagworte von damals "Bewahrung vor dem drohenden Rassentod", "Ausschaltung minderwertigen Erbgutes" führten zu einer unvorstellbaren Abwertung. Als sogenannter "erbkranker Nachwuchs" und "lebensunwertes Leben" waren wir täglich weiteren Verfolgungen ausgesetzt.

Wir führten diese Ziele der rassischen Verfolgung durch unser Leben ad absurdum. Wir Kinder der ermordeten Mütter und Väter, wir Zwangssterilisierten sind gesund, trotz aller psychischen Blessuren. Wir haben gesunde Kinder, soweit als sie vor dem Zwangseingriff geboren waren. Es gibt Hinweise, daß 90 Prozent der Betroffenen nicht erbkrank waren.

Die Bundesregierung und der Bundesrat sprechen uns und unseren Angehörigen "Achtung und Mitgefühl" aus. Soll das alles sein? Wenn schon die Morde an unseren Müttern und Vätern und der medizinischen Vollstrecker der unmenschlichen Zwangssterilisierung ungesühnt und die Täter fast ausnahmslos unbehelligt in Amt und Würden blieben, sollte dann nicht wenigstens uns als Opfer die volle Anerkennung als NS-Verfolgte gewährt und nicht länger verweigert werden?

Wir beschwören die Bundesregierung alle Bundestagsabgeordneten und die gesamte demokratische Öffentlichkeit, besonders in der heutigen Zeit, da überwunden geglaubte nazistische Ideologie wiederaufflammt, ein deutliches Zeichen in Deutschland und vor der Weltöffentlichkeit zu setzen: sich mit uns rassisch Verfolgten zu solidarisieren und uns nicht weiter als zweitklassige Opfergruppe zu behandeln.

Wir appellieren: machen Sie sich nicht mitschuldig, indem Sie uns die längst überfällige Anerkennung als NS-Opfer verweigern und so dem Aufblühen neuer rassischer Ideologie in der Bundesrepublik Deutschland Vorschub leisten.

Wenn der letzte Überlebende von uns nicht mehr sein wird, ist die historische Chance, dieses dunkle, bis heute weitgehend verschwiegende Kapitel deutscher NS-Verbrechen zu bewältigen, endgültig vertan.

Spendenkonto: 100.8176, BLZ: 47650130, Sparkasse Detmold."

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