Wir brauchen eine andere Wissenschaft von der Geschichte

"Wer aus ihr nicht lernt, ist verdammt sie zu wiederholen."

(tp) Der Bonner Historiker Dr. Walter Markov (Jg. 1909) konnte sich und seine Mithäftlinge im Zuchthaus Siegburg durch einen Aufstand kurz vor dem Einmarsch der US-Truppen befreien. Die kritischen Ansätze, die Dr. Markov schon vor 1933 vertrat, halten wir für sehr wichtig, um die Erwägungen zu einer neuen Geschichte im Dienste des Friedens und des Fortschritts voranzubringen.

Genosse Markov, zunächst möchten wir der Freude Ausdruck geben, daß Du nach schwerer Krankheit und 9 Jahren Zuchthaus wieder unter uns sein darfst. Zur Zeit arbeitest Du in einem Bonner Antifa-Büro. Könntest Du Dir vorstellen, wieder in den Universitäten Geschichte zu lehren und zu forschen?

Ja. Aber warten wir ab, wo wir die gebotenen Spielräume in der jetzigen Situation besser für eine antifaschistische Umgestaltung nutzen können. Zur Zeit halte ich die regionale Antifa-Arbeit in Bonn, die Hilfe für die Genossen, die Wachsamkeit gegenüber den Nazis für eine wichtigere Aufgabe. Aber warten wir ab.

Hast Du Vorstellungen davon, welche Epochen in Deiner Forschung behandelt werden?

Es sind nicht die Epochen. Es werden die Revolutionen sein, denen ich mein Leben als Forscher widmen würde. Das Wissen über die Einschnitte in die Menschheitsgeschichte kann uns helfen, den Weg zu einen Leben frei von Ausbeutung zu gehen.

Was ist das Interessante an den Revolutionen?

Revolution ist in ihrem Kern ein - meist konzentrierter - Machtwechsel. In unserem Fall ist die alte politische und administrative Macht schon dahin. Der Klassenfeind ist individuell, ideologisch und teilweise ökonomisch noch vertreten, aber die organisierte Gewalt, als außerökonomischer Zwang, als Staat also, ist zerschlagen. Es gibt keinen faschistischen Staatsapparat, keine Kaderschmieden, ja im Moment besteht nicht einmal eine durch die Ausbeuterklasse ausgeübte Herrschaft. Das macht die Schaffung anderer Machtverhältnisse natürlich unendlich leichter. Einfach der Fakt schon, daß das Alte restlos in Scherben fiel, wird einen Machtwechsel möglich machen.

Das Ergebnis unseres Machtwechsels wird noch kein Sozialismus sein, zumindest aber eine demokratische und antifaschistische Ordnung. Es gilt in Kenntnis der bisherigen Revolutionen der Menschheitsgeschichte einen Machtwechsel einzuleiten.

Siehst Du in den Resten der bisherigen Universitäten die Möglichkeit diese Art der Geschichtsschreibung umzusetzen? Die Universitäten haben doch, gerade hier in Göttingen, eine Säule der Nazi-Herrschaft gebildet?

Ja, letzteres selbstverständlich. Aber die Universität mit ihrem universellen Bildungsanspruch nach Humboldt trägt alle Potenzen in sich, daß sich junge Menschen umfassend bilden, kritisch reflektieren und hervorragende Kämpfer auch für den Frieden werden. Denn es war vor allen die Macht der Professoren, die die Universität zu einer NS-Brutstätte machten. Unter ihren Talaren befinden sich heute die Ausdünstungen des "1000-jährigen Reiches", Muff und nichts als Muff ist das. Alle müssen in Zukunft die Chance haben an der umfassenden Bildung teilzuhaben, keine Klassen-, Rassen- oder Geschlechterschranken darf die Wißbegierigen von der Alma Mater fernhalten. Aber wir müssen dafür sorgen, daß die Universität wieder der Zusammenschluß der Lehrenden und Lernenden wird. Demokratische Kontrolle muß einziehen in ihre Gebäude, ja, selbst der Gärtner muß mitentscheiden. Jede Form reaktionärer, ständischer Elietenauswahl muß unterbunden werden. Dazu sollten wir aber besser in den Schulen beginnen. Da gelte es, die bürgerlich-reaktionären Gymnasien, ebenso wie die proletarische Volksschule, abzuschaffen.

Und in Deiner Disziplin, der Geschichte?

Geschichte vermag nur Annäherungen zu liefern, darüber sollten wir uns klar werden. Vieles von dem, was da beschrieben wird, sind Abstraktionen, wo die individuelle Realität liegt, von der ich annehme, daß sie sich an den Erfahrungen der Subjekte orientiert, ist ein anderer Ort. Das hat die Wissenschaft bisher ausgeblendet.

Geschichte als Geschichtsschreibung bedarf aber anderer, außer ihr liegender Ausdrucksmittel. Unser so geschmähter Heine sagte: Er beobachtete, daß es eine wunderliche Grille des Volkes sei, seine Geschichte lieber aus dem Munde des Dichters entgegenzunehmen als aus dem des entsprechenden Fachprofessors. Liegt das, frage ich mich, nicht oft an mangelnden Einsichten des Spezialisten, der nicht begreifen will, daß ihm solche Anleihe nicht zur Schande, sondern im Gegenteil zum Ruhme gereicht?

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Walter Markov

Aber Genosse! Die Kriterien der wissenschaftlichen Objektivität ...

... Nein! Begreifen wir doch. Die Menschen, muß ich das denn betonen, machen ihre Geschichte, wenn nicht immer frei bestimmt, aber sie machen ihre Geschichte selbst! Daran müssen wir uns auch orientieren. Und all unsere Abstraktionen wie "Staat", "Herrschaft" oder "Klasse" haben für die Einzelnen einen eigenen Sinn. Da sollten wir vielleicht hin, zu den Biographien der Menschen.

Die meisten Menschen hinterlassen kein eigenes Bild von ihrem Alltag, überliefert werden doch nur die Zeugnisse der Gebildeten. Die Gefahr der Verklärung von Geschichte durch Biographien ist groß, wenn der Autor das Prinzip Verantwortung nicht respektiert.

Sehr richtig. Die Masse der Armen und Niedergedrückten schreibt nicht, hat nie geschrieben. Hochbildung war immer schon Privileg. Alles, was mit geschichtlicher Tradierung verbunden ist, kann durch Manipulation des Verteilerschlüssels verfälscht werden. Die Gefahr einer Entstellung, selbst wenn es nur Irrtümer im guten Glauben sind, eine Neigung sich selbst für das Ganze zu nehmen oder sich mit ihm in eins zu setzen, lauert auf allen Wegen. Und merke: doch nicht nur in der Biographie! Wo hätten wir sonst diese Bismarck-Interpretationen, wie auch hier in Göttingen erlebt, her.

Lebensgeschichten sind wichtige Frage- und Ausrufezeichen, noch nicht die Geschichte aller. Und ob es die überhaupt gibt, die Geschichte aller, das bezweifele ich.

Wirst Du dich habilitieren? Gerade in Universitäten wie in Göttingen, wo die Nazis und ihre Chronisten, wie z.B. P.E. Schramm wirken, brauchen wir eine antifaschistische Orientierung.

Das glaube ich auch. Aber die britische Besatzungszone scheint wir weniger geeignet zu sein als die sowjetische Zone, dieses umzusetzen. Da spielt auch hinein, daß ich nun einmal Kommunist bin.

Für Deinen Weg wünschen wir Dir alles Gute. Danke!

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