Niederlande befreit - ein Volk atmet auf

Amsterdam, 7. Mai (Korrespondentenbericht/ck) - Mit stürmischem Jubel empfingen ca. drei Millionen Niederländer im holländischen Kernland zwischen Maas und Ijsselmeer die Soldaten des 1. kanadischen Heereskorps. Fast auf den Tag genau nach fünf Jahren hat das niederländische Volk seine Freiheit und sein Selbstbestimmungsrecht zurückerhalten. Für die Niederländer ging eine lange Leidenszeit zuende, die mit der Verletzung der Neutralität durch die deutsche Wehrmacht begann und mit Massendeportationen, Verwüstungen, Plünderungen und Geiselerschießungen endete. "Unmittelbar nach dem Überfall der Wehrmacht hätte kaum einer meiner Landsleute geglaubt, daß die Deutschen in derart rabiater Art und Weise das Kriegsrecht verletzen würden. Wir wußten von den deutschen Verbrechen in Polen und an den deutschen Juden. Aber wir hätten nie gedacht, daß die Besatzungsmacht dieses so gesetzestreuen und korrekten Volkes 120.000 jüdische Bürger in den Tod schicken, hunderttausende unserer Männer als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportieren und fast ein Zehntel unseres Landes überfluten wird", erklärte ein Leidener Juraprofessor, der von den Strapazen der letzten neun Monate noch schwer gezeichnet war.

Die deutsche Kapitulation an der Westfront und die sofort einsetzende Nahrungsmittelhilfe der Amerikaner und Briten rettete Zehntausende Niederländer buchstäblich vor dem Verhungern. Die deutsche Besatzungsmacht hatte im September 1944 die niederländische Bevölkerung im Westen des Landes für zwei Monate von der Lebensmittelversorgung abgeschnitten. Während des "hongerwinter" 1944/45 fiel die tägliche Lebensmittelversorgung in den deutschen Städten auf 600 Kalorien. Nach seriösen Schätzungen des Niederländischen Roten Kreuzes starben ca. 20.000 Menschen an Hunger und Kälte. Da der dicht bevölkerte Westen des Landes seit März 1945 von der Versorgung aus den befreiten Gebieten im Osten abgeschnitten war, hätte jeder weitere Tag unter deutscher Besatzung hunderte Todesopfer gefordert. Der Anlaß für die Blockade der Lebensmittelzufuhr durch den Reichskommissar (Chef der Besatzungsmacht) Arthur Seyss-Inquart war der Generalstreik der niederländischen Eisenbahner seit September 1944. Sie folgten damit einem Aufruf der Exilregierung in London, die deutschen Truppentransporte und Nachschublieferungen zu blockieren. Die Rache der Besatzungsmacht war brutal. Die Frühjahr 1943 begonnene Verschleppung niederländischer Männer zur Zwangsarbeit nach Deutschland wurde verschärft, Hafenanlagen in den Seehäfen gesprengt, große Teile der Infrastruktur wie z.B. fast der gesamte Wagen- und Lokomotivpark der Eisenbahnen regelrecht ausgeplündert und in das Reich geschafft. Die Wehrmacht und der Sicherheitsdienst (SD) der SS beantworteten Anschläge des niederländischen Widerstandes mit immer schärferen Repressalien. Nach dem gescheiterten Attentat auf den Chef der Sicherheitspolizei und des SD Hanns Albin Rauter wurden allein 163 Männer und Frauen des Widerstandes erschossen.

Über 1.000 Niederländer und Niederländerinnen bezahlten ihren aktiven Widerstand gegen die Besatzungsmacht mit dem Leben. Auch wenn sich nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung an Sabotagehandlungen und Anschlägen auf Einrichtungen der Besatzungsmacht beteiligten, halfen hunderttausende Niederländer ihren Landsleuten auf der Flucht vor Verhaftung und Zwangsarbeit. Amsterdamer Hafen- und Straßenbahnarbeiter traten - einmalig im besetzten Europa im Februar 1941 wegen der Verfolgung ihrer jüdischen Nachbarn in den Streik. Doch weder ihr Streik noch die mutigen Worte der niederländischen Kirchen konnten verhindern, daß 120.000 von 140.000 jüdischen Bürgern über das KZ-Westerbork in die Vernichtungslager transprotiert und ermordet wurden. Möglich waren die Massendeportationen auch, weil die niederländische Bevölkerung durch die Bevölkerungsregister vollständig erfaßt war. Die Gemeindeverwaltungen und die niederländische Polizei bestanden zwar mehrheitlich nicht aus Anhängern der niederländischen Nationalsozialisten, funktionierten aber bis zum Sommer 1944 durchaus zur Zufriedenheit der Besatzer.

Um so schwerer ist es zu entscheiden, wer sich der Kollaboration schuldig machte oder einfach nur seine Pflichten als Staatsbediensteter erfüllte. Bislang haben, anders als im befreiten Frankreich, keine blutigen Racheakte an wirklichen oder vermeintlichen Kollaborateuren stattgefunden. In einem jedoch gleichen sich die Bilder im befreiten Frankreich und in den Niederlanden: Mädchen und Frauen, denen ein intimes Verhältnis mit Besatzungssoldaten nachgesagt wird, werden kahl geschoren und öffentlich gedemütigt. Während die wirklichen Kollaborateure nach der Verhaftung korrekt behandelt und nach rechtsstaatlichen Prinzipien verurteilt werden, sind "moffenhoeren" zur Zeit beliebte Opfer ungezügelter Rache.

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