Mein 1. Mai 1945

Mein allerschönster 1. Mai aber war dieser 1. Mai 1945. Dazu gehört eine kurze Vorgeschichte. Als Häftlinge des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück wurden wir noch in den allerletzten Apriltagen aus dem Lager getrieben, angeblich sollte uns noch ein anderes aufnehmen. Neben mir ging Rosa Thälmann. In der ersten Reiheschritt eine österreichische Kameradin, die ihr kleines Kind auf vorgestreckten Armen durch das Tor trug.

Unsere Empfindungen waren gespalten: Wohin führte dieser Weg? Und was würde die SS mit uns und den kranken Häftlingen machen, die im Lager zurückbleiben mußten?

In Fürstenberg, der nahe gelegenen kleinen mecklenburgischen Stadt, herrschte ein unvollstellbares Gedränge. Kolonnen von deutschen Soldaten, die dem Westen zustrebten, trafen hier mit den großen Flüchtlingstrecks aus dem Osten zusammen, und wir tausende Frauen kamen noch hinzu. Auf einmal war Rosa Thälmann nicht mehr neben mir. Sie blieb verschwunden, soviel wir unsere Augen auch umhergehen ließen. Mit der großen Unruhe im Herzen um Rosa Thälmann marschierten wir weiter. (Damals wußte ich nicht, daß es organisiert war, Rosa Thälmann aus unseren Reihen herauszuholen und zu verstecken.) Wir waren eingeschlossen von den nervösen deutschen Soldaten und den Flüchtlingstrecks. Über uns brummten die englischen Flugzeuge. Würden sie in diesem Durcheinander erkennen, daß wir Frauen aus dem KZ waren? Eine furchtbare Detonation ließ uns befürchten, das Lager mitseinen Kranken sei in die Luft gesprengt worden. Viel später erfuhren wir, daß es ein Munitionslger gewesen war.

Am Abend wurden wir in die Wälder neben die Straße getrieben. Es sollte nur noch nachts maschiert werden. Am Morgen schallte es durch die Lautsprecher: "Alle deutsche Frauen an den Straßenrand!" Wir berieten kurz und beschlossen, nicht hinunterzugehen. Wußte man, was die SS mit uns vor hatte? Einige Frauen, die nicht mehr laufen konnten, waren schon erschossen worden. Zum erstenmal folgten wir einem Befehl der SS nicht! Nach einigen Stunden stellten wir fest, daß sie sich abgesetzt hatte. Die SS war getürmt.

Sind wir wirklich frei? Wir können es nicht glauben. Granaten fliegen über uns hinweg. Auf der Landstraße, die in unserem Blickfeld liegt, marschieren noch immer die deutschen Soldaten. Wir hausen in Erdlöchern und Unterständen. Nach langen langen Stunden ist die Straße frei von Soldaten. Eine stundenlange nicht endenwollende Stille bricht an. Wir warten und horchen - wir horchen und warten. Und auf einmal - noch weit entfernt - Geräusche, die immer stärker werden. Dann unverkennbar - es muß die Rote Armee sein! In der Nacht steht ein junger Rotarmist vor unserem Erdloch, der uns verständlich macht, wir sollen in unseren Unterständen bleiben, er gehöre nur zur Vorhut.

Am Morgen, es ist der 1. Mai, begrüßen uns russische Soldaten und Offiziere. "Guten Morgen, liebe Frauen", sagt einer im besten Deutsch, "ihr könnt nach Hause gehen, ihr seid frei! Aber kommt erst einmal zur Landstraße." Es ist ein herrlicher Sonnentag, dieser 1. Mai 1945. Auf der Straße zieht die sowjetische Armee vorbei. Auf jedem Panzer stehen vorne zwei baumlange junge Rotarmisten, in ihren Händen lange rote Fahnen, die im starken Wind flattern. Es ist, als seien sie zu unserer Begrüßung angetreten. Wir lachen, wir weinen, wir winken und grüßen. Auf einmal klingt ein Lied auf, und viele viele Stimmen in vielen Sprachen fallen ein: Wacht auf, Verdammte dieser Erde!

Wir singen, bis der letzte Rotarmist nicht mehr zu sehen ist. Und nun weiß ich es mit absoluter Sicherheit: Wenn auch noch nicht in ganz Deutschland: Für uns hier und schon für viele ist die Nazibarberei vorbei und für die anderen ist das Ende absehbar!

Wir sind wirklich frei!"

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