Ein Göttinger Wirtschaftsleben

Göttingen im Mai (red/abw) - Folgender Bericht stammt von Frau Elfriede Röhr. Sie ist 40 Jahre alt, verwitwet, und hat einen neunjährigen Sohn.

Ich bin in Göttingen geboren und aufgewachsen. Mein Vater war Fleischermeister und besaß ein Geschäft in der Lotzestraße. Nach dem Ersten Weltkrieg lief es lange Zeit nicht sehr gut, weil Fleisch fast den Rang eines Luxusartikels einnahm. Aber auch vielen seiner Berufskollegen ging es nicht besser und manche hatten durch den Krieg fast alles verloren. Karl Herting gehörte zu jenen, die an der neuen Zeit schwer zu tragen hatten. Seine Fleischerei in der Groner Tor Straße mußte er 1915 schließen, weil er zum Kriegsdienst einberufen wurde. Als er drei Jahre später zurückkam, hatte er alles verloren. Lange Zeit litt Hertings Familie Not, und erst ab 1924 sah man ihn mit einem kleinen Verkaufsstand wieder auf dem Wochenmarkt. Die Fleischwaren bezog Herting von einem anderen Fleischermeister, an den er 90% des Umsatzes abzuführen hatte. 1927 konnte er wieder auf eigene Rechnung Vieh einkaufen und schlachten; dazu hatte er eine kleine Werkstatt in der Jüdenstraße 10, wo er das Fleisch verarbeiten konnte. Karl Herting vermochte aber nur auf eigenen Füßen zu stehen, weil er von Kollegen Unterstützzung erhielt. So gab ihm beispielweise der jüdische Fleischermeister Meier Aschenberg hier und da kleinere Darlehen. Aschenberg nahm ihm auch regelmäßig das fast unverkäufliche Kalbsvorderfleisch ab, das bei Schlachtungen anfiel.

1925 habe ich geheiratet und Richard, mein Mann, hat als gelernter Fleischer unser Geschäft übernommen. In dieser Zeit erregten die Nationalsozialisten zunehmend Aufsehen in der Stadt. Sie schimpften nicht nur in eigenen Versammlungen auf den Staat, sondern organisierten auch auf der Straße sogenannte Aufklärungsaktionen. Vor Warenhäusern und jüdischen Geschäften wurde demonstriert und den Juden und Kapitalisten alle Schuld an der Not des kleinen Händlers und Handwerkers gegeben. Für derartige Aktionen hatten sie einen straff geführten Verein gegründet, den Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand. Als die Wirtschaftskrise einsetzte, schloß sich auch Karl Herting diesem Kampfbund an. In der Gruppe lernte er das Gedankengut der Nazis kennen und trat im Frühjahr 1932 in die Partei ein. Er machte bald wegen seiner aggressiven Art von sich reden und wurde deshalb 1932 wegen einer Beleidigungssache verurteilt. Als die Nazis dann an die Macht kamen, gab man ihm einen Sitz im Bürgervorsteherkollegium. Den behielt er aber nur für kurze Zeit und ließ sich schon nach einem halben Jahr ablösen. 1934 wurde Herting dann richtig erfolgreich. Er wurde zum Kreispropagandaleiter ernannt, die Bürgerschützengesellschaft machte ihn zum Oberschaffer, und im Herbst erhielt er das Amt des Obermeisters der Fleischer-Innung. Nach der feierlichen Amtsübernahme im Handelshaus, bei der alle Fleischer anwesend sein mußten, kam mein Mann kopfschüttelnd nach Hause. Herting hatte eine Ansprache gehalten und dabei auch das übliche vom großen Aufbauwerk des Führers erzählt, für das jeder an seinem Platz sein Bestes geben sollte. Aber zum Schluß wurde er laut und fing an zu schreien, daß er seine Handwerkerschaft mit entschlossener Härte führen und kein laues Verhalten in der Innung dulden würde. Sein Wahlspruch, mit dem er die Versammlung entließ, lautete: "Ihr sollt mich nicht lieben, ihr sollt mich fürchten" und mit einem dreifachen Sieg-Heil-Gebrülle auf den Führer klang der Abend aus. Keiner wagte mehr etwas zu sagen und alle gingen schweigend nach Hause. Im folgenden Jahr wurde Herting die Führung der Kreisbetriebsgemeinschaft "Handwerk" der Deutschen Arbeitsfront übertragen. Offenbar war man mit seinen Aktivitäten zufrieden und 1936 habe ich ihn auch einmal selber gehört. Im Sommer dieses Jahres war eine Pflichtversammlung der Innung im Stadtparkgebäude, zu der mein Mann und ich gemeinsam hingingen. Karl Herting hielt erst eine allgemeine Rede über den Stolz auf unser Vaterland, den uns der Führer zurückgegeben hätte, und kam dann auf die Juden zu sprechen. Für diesen Teil der Rede brauchte er kein Manuskript mehr und sprach in freier Rede von angeblichen jüdischen Schandtaten. Insbesondere die Firma Löwenstein aus der Goetheallee lag ihm am Herzen, sie wurde in immer unflätigeren Worten von ihm beschimpft. Löwensteins hatten in der Stadt das größte Geschäft für Fleischereibedarfsartikel und es gab keine "arische" Firma, die es ersetzen konnte. Karl Herting hatte damit offenbar sein Leib- und Magenthema gefunden, denn er warnte jeden Fleischer davor, dort weiterhin einzukaufen, da dies beträchtliche Unannehmlichkeiten nach sich ziehen würde. Er steigerte sich mehr und mehr in die Sache hinein und brüllte schließlich nur noch von jüdischer Verschwörung, jüdischem Betrug am Kunden und von jüdischem Schimmel, der auszumerzen wäre. Mein Mann und ich schauten uns nur an, wir standen ja selber in jahrelanger Geschäftsverbindung mit Löwensteins. Wie konnte bloß einer, der doch selber viel Hilfe von Juden erfahren hatte, denn nach der Hand beißen, die ihm geholfen hatte? Auf dem Nachhauseweg meinte Richard dann, daß Herting für ihn nur noch Karl Braunbrüll hieße.

Ein paar Jahre später erfuhr Karl Hertings Karriere dann einen Knick. Vermutlich wegen Zwistigkeiten gab er 1937 sein Amt in der Arbeitsfront ab. Kurz darauf leitete die Partei ein Ausschlußverfahren ein und stieß ihn aus. Auch als Obermeister wurde er nun abgesetzt, wobei die ganze Sache nach einer schweren Intrige aussah, bei der wahrscheinlich auch der Kreisleiter seine Hände im Spiel hatte. Trotzdem gab sich Karl Herting noch nicht geschlagen. Er zog vor das Gaugericht und konnte dort die Rücknahme des Parteiausschlusses und somit seine Ehrenrettung durchsetzen. Seinem Nachfolger an der Spitze der Innung, Albert Zeibig, verpaßte er anschließend auch noch einen Hieb. Er zeigte ihn beim Handwerkspräsidenten wegen einer zurückliegenden Urkundenfälschung an und bewirkte so seine Absetzung. Aber Herting hatte schließlich doch alle seine Ämter eingebüßt und auch die Bürgerschützengesellschaft suchte sich einen anderen Oberschaffer. Bis in den Krieg hinein hörte man nichts mehr von ihm, nur sein Geschäft lief weiterhin gut.

Wie dann der Krieg ausbrach und es später gegen Rußland ging, wurde mein Mann einberufen. Im Frühjahr 1941 kam eine Anordnung, daß unser Geschäft aus kriegswirtschaftlichen Gründen schließen müßte. Richard haben sie zur Wehrmacht geholt und ich mußte sehen, wie ich nun alleine mit den beiden Kindern durchkam. Bald darauf erhielt ich auch ein Schreiben vom Arbeitsamt, das mir mitteilte, daß ich mich beim Aluminiumwerk zu melden hätte wo mir eine Arbeit zugewiesen würde. Von da ab bin ich jeden Tag ins Werk gefahren und habe an einer Maschine Bleche geprüft. Richard kam noch zweimal auf Urlaub zurück, hat aber nie von der Front erzählen wollen. Im Februar 1942 traf dann die Todesmeldung ein. Sein Kommandeur schrieb, er hätte einen Kopfschuß erhalten und sei sofort tot gewesen. Ich habe das nicht geglaubt mit dem Kopfschuß, weil es in dem Brief genauso klang wie bei anderen Bekannten auch, deren Männer schon früher gefallen waren. Im Tageblatt sollte dann eine Anzeige erscheinen aber sie sah anders aus, als ich es wollte. Das Fräulein von der Anzeigenabteilung meinte, es tue ihr leid, aber der Text dürfe nur lauten "in stolzer Trauer".

1943 hat man sich in der Stadt wieder Neues von Karl Herting erzählt. Auf dem städtischen Schlachthof hatte er einen Polen ertappt, als dieser sich ein Stück Fleisch einstecken wollte. Er hat ihn bei der Gestapo zur Anzeige gebracht und die haben den Polen gleich weggeholt. Man hat ihn nicht mehr wiedergesehen und eine Woche später stand im Tageblatt, daß ein Ostarbeiter wegen Lebensmitteldiebstahls gehängt worden wäre. Aber die Sache hatte für Herting noch ein Nachspiel. Der Pole hatte nämlich auch bei Genglers als Gärtner gearbeitet und Frau Gengler soll völlig außer sich gewesen sein, daß man ihr den begabten Gehilfen genommen hatte, der so wunderbare Blumenbeete anlegen konnte. Sie lag ihrem Mann deswegen ständig in den Ohren, weil sie die ganze Geschichte als persönliche Rache Hertings ansah. Um seine Ruh' zu haben, hat der Kreisleiter daraufhin das Parteigericht einberufen und Herting wurde im Herbst 1943 wegen angeblicher parteischädigender Äußerungen erneut aus der Partei ausgestoßen. Bis zum Kriegsende hat man dann nichts mehr von ihm gehört.

Im November 1944 ist mein ältester Sohn gefallen. Heinrich war erst 16 Jahre alt und seit ein paar Monaten als Flakhelfer eingesetzt. Beim einem schweren Luftangriff auf den Bahnhof hat seine Batterie einen Volltreffer erhalten. Man hat nichts mehr von ihm gefunden und auch nicht von zweien seiner Kameraden, die auch nicht älter waren. Ich konnte ihn nicht einmal beerdigen. Am nächsten Tag ist bei uns ein Uniformträger von der Kreisleitung erschienen und hat etwas erzählt davon daß Heinrich ein tapferer Soldat gewesen sei und ein Vorbild für alle deutschen Jungens sei. Ich habe die ganze Zeit nur geweint und der Mann ist dann bald wieder gegangen. Im Hinausgehen murmelte er noch, daß er uns ein paar Lebensmittel- und Kleiderkarten besorgen könnte, da wäre schon was zu machen.

Am zweiten Sonntag im April war der Krieg für uns vorbei, und es zeigte sich erneut, wie erstaunlich schnell manche Menschen ihre Einstellung ändern können. Noch am Feitag abend hat eine Nachbarin beobachtet, wie Karl Herting seine alte braune Uniform im Garten vergrub. Sonntag nachmittag stand er in seinem besten Anzug am Straßenrand und nickte den durchmarschierenden Amis freundlich zu, den Hut in der Hand. Ein paar Tage später tauchte er im Büro des Stadtkommandanten auf und bot sich als Helfer für die Fleischversorgung an. Die brauchten seine Dienste jedoch nicht und der diensthabende Offizier hat ihn schließlich rausgeworfen, weil Herting ihn andauernd von seinen wichtigen Verbindungen und Kenntnissen überzeugen wollte.

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