"Das schlußfolgernde Denken fehlte mir einfach..."

Gespräch mit Frau Johanna Ebersberger, Jahrgang 1907

Frau Ebersberger, wo waren Sie am Ende des Krieges?

Ich war in ein kleines Dorf in der Nähe von Jena ausquartiert und war dort Lehrerin. Ich wohnte bei einer Frau, deren Mann noch im Krieg war. Sie kam nach und nach mit ihrer Meinung heraus, daß der Krieg nicht zu gewinnen sei, daß der ganze Krieg überhaupt ein Unfug sei, und Hitler sei sowieso ein Moloch gewesen, ein Tyrann. Eigenartigerweise hatte ich selbst zwar einiges an dem ganzen schon längst in Frage gestellt, konnte mich aber nicht entschließen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen, sondern überlegte immer wieder, wie das denn werden sollte, wenn wir besiegt werden würden. Das war der Gedanke, der mich für andere Einsichten vollkommen blockierte.

Ich war vor 1933 aus großem Idealismus und mit Euphorie in die Partei eingetreten. Ich fand, wir brauchten eine Sammlung des Volkes, und ich glaubte, daß das Nationale mit dem Sozialen eine gute Verbindung geben könnte. Hitler war zu der Zeit, zu der ich eintrat, noch nicht der Führende. Er ist für mich auch nie "der große Held" gewesen. Ich habe bewundert, wie er die Massen in den Griff bekam, und auch seine Entschlußkraft.

Daß ich eine begeisterte Nationalsozialistin geworden bin, hing auch damit zusammen, daß wir im Militarismus aufgewachsen waren.

Sie haben vorhin gesagt, daß Sie einiges am Nationalsozialismus schon länger in Frage gestellt hatten. Was war das, und wie kam es dazu?

In der NSDAP gab es viele Auseinandersetzungen mit den Parteigenossen, die bis hin zu der Frage gingen, wenn die Juden nun weg sollen, was wird denn dann aus ihnen? In unserer Ortsgruppe sagten welche, sie kämen erstmal in Sammellager und müßten dann nach Palästina auswandern. Von Hitlers "Mein Kampf" hatten die meisten, auch ich, nur den Anfang gelesen. Da gab es sehr viel Wirres, aber es stand auch immer wieder klar da, daß die Juden das Übel des deutschen Volkes seien. Auch auf den Schulungsabenden der NSDAP wurde gesagt, es gäbe Pläne einer jüdischen Machtergreifung in Deutschland. Ich dachte, wenn das so ist, dann müssen sie natürlich raus aus Deutschland.

Meine Mutter hatte schon während des Krieges eine derart scharfe Kritik am Nationalsozialismus geäußert, daß ich ihr eigentlich hätte Recht geben müssen. Aber meine Mutter war generell sehr kritisch, und es fiel mir nicht leicht, ihre Kritik an mir und meiner Art zu leben auszuhalten.

Ich hatte auch Schwierigkeiten in der Partei gehabt, weil ich nicht genug spendete. Aber ich konnte es einfach nicht, ich konnte nicht einmal eine Krankenkasse bezahlen, und meine Mutter, die eingentlich eine ärztliche Behandlung brauchte, konnte deshalb keine bekommen. So war ich auch schon kritisch betrachtet worden, und meine Mutter meinte prompt, das sei nun der "Dank des Vaterlandes".

Ich wollte nach wie vor von meiner ursprünglichen Meinung nicht weg, hatte allerdings einen Teil dessen, was schlimm war und wurde, durchaus gesehen. Aber ich habe weggehört, als man mir mal sagte, daß Schlimmes mit den Juden passiert. Ich habe auch gesehen, daß einmal ein jüdisches Geschäft demoliert wurde. Ich kann bis heute nicht sagen, warum ich das nicht als schrecklich empfand - aber so ist es gewesen. Das schlußfolgernde Denken fehlte mir einfach.

Ich hatte eine Freundin, die in der Bekenntnis-Gemeinde war. Sie hat mich manchmal mit in die Kirche genommen, und auch dort passierten wichtige Dinge für mich. Mir wurde langsam klar, daß dieser Jesus für alle Menschen da ist, auch für die Juden.

Auch folgendes Erlebnis gab mir zu denken: Ein bekannter Nationalsozialist sprach mich einmal an, warum ich eigentlich, wenn ich nun schon über dreißig wäre, keine Kinder hätte. Meine Antwort, daß ich nicht verheiratet sei, ließ er nicht gelten. Er sagte, es gäbe ja den Plan, daß gesunde, nationalsozialistisch eingestellte Frauen für den Staat Kinder gebären sollten. So direkt, wie ich da war, fragte ich ihn dann, was denn wohl seine Frau sagen würde, wenn ich von ihm ein Kind bekäme. Er meinte, die würde das überhaupt nicht erfahren. Ich sagte ihm ganz klar, daß er das mit mir nicht machen könne.

Bei den Unzulänglichkeiten, die ich teilweise gesehen hatte, dachte ich aber letztlich immer, die gehörten nicht dazu, das seien Fehler der Menschen, nicht der Ideologie.

Wie war dann das Kriegsende für Sie?

Gegen Kriegsende war bei mir eine große Ratlosigkeit und das Wissen, daß es nach dem Sieg über Deutschland schlimm werden wird. Infolgedessen habe ich persönlich keine Befreiung empfunden, aber das Aufatmen, daß nun die Kämpfe vorbei sind.

Ich habe auch gedacht, daß nun die Zeit käme, in der ich für das, was ich gesagt und gewollt habe, bestraft würde. Das ist merkwürdigerweise fast ausgeblieben. Die Zeit wurde zwar schwierig, weil man ja auch aus dem Beruf herauskam, aber das empfand ich eigentlich als folgerichtig.

Sind Sie über Ihre Einstellung befragt worden?

Ja, die Amerikaner hatten einen Fragebogen. Es war wichtig für mich, zu sagen, was war, nichts zu verschweigen.

Die Amerikaner blieben eine ganze Weile dort, so daß wir etwas Zeit zum Nachdenken und zu uns kommen hatten.

Ich kehrte mit meiner Mutter in unsere Jenaer Wohnung zurück. Nun bekam ich ja kein Geld mehr und hatte deshalb angefangen, als Flickfrau und Näherin auf die Güter zu ziehen. An den Wochenenden brachte ich dann auch mal einen Kohlkopf oder ein bißchen Schweineschmalz mit - wir hatten ja nichts! Die Versorgung war schon lange sehr schlecht gewesen.

Schließlich räumten die Amerikaner das ganze Gebiet und die Sowjets kamen. Das fanden wir schlimm. Die sowjetische Verwaltung hat erstmal dafür gesorgt, daß ihre Truppen gut versorgt waren und daß sie Wohnungen bekamen. Auch in unserem Haus wurde eine Wohnung beschlagnahmt, und die Leute wurden in unsere Wohnung mit eingewiesen. Meine Mutter war damals mit fast allen Leuten im Haus verfeindet. Ich mußte dann Frieden stiften zwischen denen, die bei uns mit in die Wohnung einzogen, und meiner Mutter.

Auch den Frauen, besonders den jüngeren, erging es zum Teil jetzt sehr schlecht. Trotzdem passierte etwas, was für mich damals sehr wichtig war: Die Sowjets hatten Filme von den Tagen der Befreiung in den KZs gedreht. Alle mußten diese Filme sehen, und da stürzte etwas ein bei mir - diese Bilder und das Grauen will ich mein Lebtag nicht vergessen. Wir Nazis mußten auch den Film sehen vom Nürnberger Gericht und vom Erhängen derer, die da verurteilt worden sind. Auch das war sehr wichtig; jetzt erst kam die Auseinandersetzung mit dem, was da war. Daran konnte niemand vorbei, wenn er dem tatsächlichen Geschehen gegenüber aufgeschlossen sein will. Es hat bei mir Jahre gedauert, bis ich zum Verstehen gekommen bin. Die Anfänge hatte ich allerdings schon unter der Hitler-Diktatur gesucht, indem ich anfing, Psychologie und Erziehungswissenschaften zu studieren. Ich wollte herausfinden, wie weit eigentlich andere über eine Person, ihr Leben und Denken bestimmen dürfen. Damit hatte ich mich von den Gewalttätigkeiten, die vorher möglich schienen, doch schon etwas entfernt.

Als meine Mutter starb, hatte ich dann quasi einen Zusammenbruch. Es hatte irgendwie keinen Sinn mehr, mich für mich allein so anzustrengen. Als ich die schlimmste Zeit überwunden hatte, hat mich dann eine ganz große Fassung ergriffen. Mir wurde plötzlich klar, daß endlich Schluß sein mußte mit den ewigen Kriegen, dem ewigen Vergelten. Das war der Anfang von einer Nachdenklichkeit bis hin zu einer kritischen Betrachtung der heutigen Verhältnisse. Außerdem war ich schwanger. Ich wollte, daß dieses Kind trotz allem fröhlich und gesund aufwächst und merkt, daß es geliebt wird. Das scheint mir bis heute wichtig, daß wir gut miteinander umgehen, soweit wir können, daß wir uns gegenseitig immer wieder Mut machen. Solche Menschen sind mir nah und wichtig.

Ich bin dann in die Bundesrepublik gegangen und mußte mein Kind - das unehelich geboren wurde - adoptieren, damit ich Lehrerin werden konnte; sonst wäre ich nicht eingestellt worden.

In welchem Jahr war das?

Das war 1953. Die Zeit war damals schon wieder erstaunlich restaurativ. Als Ausgangspunkt zum Weitermachen wurden erstmal wieder die alten Werte rausgesucht. Das ist zum Teil verständlich, aber es paßte eigentlich überhaupt nicht mehr ins Leben.

Was ist Ihnen für die Gegenwart und die Zukunft am Wichtigsten?

Mit anderen Menschen zu sprechen und ihre Erlebnisse und Meinungen zu erfahren und mit den meinen zu vergleichen, half mir sehr, und diese Gespräche erscheinen mir wichtig für die Herausbildung der eigenen Gedanken und der eigenen Meinung. Als Mitglied der Friedensbewegung wie auch der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Pro Asyl und meiner Kirchengemeinde möchte ich, so lange ich kann, mithelfen und mit denken. Ich bekenne mich vor allem konsequent zum Antifaschismus.

Vielen Dank für das Gespräch.

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