Berlin, 7. Mai (jm) - Für Millionen deutscher Frauen ist das Kriegsende unmittelbar mit erlittenen Vergewaltigungen oder der begründeten Angst davor verbunden. Durch die nachfolgenden Beiträgen wird versucht, sich dem Thema "Gewalt gegen Frauen" in den letzten Kriegstagen zu nähern.

Läßt sich darüber reden?

Gewalt gegen Frauen

Berlin, 6. Mai (al) - Die Befreiung hat viele Gesichter. Für zahllose Deutsche buchstabieren sich die Stunden und Tage, seit die Sieger die Nazi-Herrschaft beendet haben, nicht als Freude. Für sie war und ist es Angst, Leid und Gewalt, die von den Siegern ausgeht. Das gilt besonders für Frauen, für junge wie alte, Mädchen wie Greisinnen. In Berlin wird behauptet, daß jede dritte der ca. 1,5 Millionen Frauen zwischen 24. April und 5. Mai, als die Sowjettruppen Berlin eingenommen haben, vergewaltigt worden ist.

Von einem Angehörigen war zu erfahren, daß eine ältere Verwandte (Ende 50) von einem jungen Soldaten, der gegen Abend allein bei ihr eindrang, mit der Maschinenpistole bedroht wurde: Sie solle sich ausziehen. Sie habe ununterbrochen geredet, sie versuchte ihm - "fast ein Kind noch" - klarzumachen, daß er ihr Sohn, ja Enkel sein könnte. Aber das Reden habe ihn nur wütend gemacht. "Eine Ewigkeit", so die Frau, hätte er auf ihr gelegen; in Wirklichkeit aber sei es so schnell wie der Wind gegangen. Dann sei er aufgesprungen, habe die Waffe von der Kommode und, ohne sich zuzuknöpfen, Reißaus genommen. Sicher habe er sich geschämt.

Aber es bleibt häufig nicht bei einer einzigen Gewalttat. Zwar weiß niemand Genaues. Aber es scheint, daß in Berlin annähernd 10.000 Frauen an der Männergewalt gestorben sind - die meisten von ihnen waren mehrfach vergewaltigt.

Viele Frauen haben Vergewaltigung erwartet. Sie gaben sich gegenseitig Ratschläge, suchten gemeinsame Verstecke oder halfen sich mit Verkleidungen; auch Brilletragen war ein Tip. - Über solche Vorbereitungen ist nicht nur aus dem Osten zu hören. Auch im Südwesten und Westen versuchten viele Frauen, Übergriffen vorzubeugen oder sich zu entziehen. Berichte über Vergewaltigungen liegen übrigens aus dem Ruhrgebiet ebenso wie aus dem Raum Tübingen vor. An der Ruhr operieren US-Truppen; am Neckar französische Verbände.

Vor allem aber richten sich die Ängste auf die Rote Armee: Viele wußten von den deutschen Mordtaten in der Sowjetunion. Die deutsche Propaganda hat aber auch seit Monaten unablässig über die vergewaltigten und ermordeten Frauen im ostpreußischen Nemmersdorf berichtet, eine Greueltat von Rotarmisten im Oktober 1944. Zugleich stieg in den letzten Wochen des Krieges die Erbitterung bei den alliierten Truppen in Ost wie West: Weshalb setzten die Deutschen den Kampf immer noch fort? Manche der sowjetischen Fronttruppen haben sich in einen "Vernichtungsrausch" gesteigert. Entgegen der deutschen Propaganda griffen jedoch Vorgesetzte immer wieder ein. Augenzeugen berichten über Fälle bei der Roten Armee. Selbst Offiziere seien von Militärpolizisten geschlagen und abgeführt worden. Und auch die Propaganda sucht gegenzusteuern: Ilja Ehrenburg hat keineswegs dazu aufgerufen, Vergeltung an "blonden" deutschen Frauen zu üben. Vielmehr werde "der sowjetische Soldat keine deutsche Frau belästigen... Er ist weder wegen der Kriegsbeute, noch zum Plündern oder der Frauen wegen nach Deutschland gekommen."

Aber auch von den deutschen Nazi-Behörden sind Vorbereitungen getroffen worden. Jetzt ist ein Schnellbrief des Innenministeriums vom 26. Februar 1945 bekannt geworden. Er enthält den Vorschlag an den Justizminister, das Verbot der Abtreibung auszusetzen und "in größeren Städten besondere Abteilungen zur Betreuung derartiger (d.i. vergewaltigter) Frauen einzurichten." Es gelte, "unerwünschten mongolischen und slawischen Nachwuchs zu verhindern".

Es wird darüber geredet: in der Schlange beim Wasserholen, vor allem aber in Familien, zwischen Müttern und Töchtern. Für die Frauen, die überlebt haben, gehört Vergewaltigung zu den Überlebenserfahrungen. Mitunter ist diese Gewalt das schlimmste, aber nicht immer. Verluste, Versehrungen und Erniedrigungen gibt es geballt in diesen Wochen: Tod von Kindern, Eltern, Männern oder Freunden, Verlust von Wohnung, Hab und Gut. Es sind aber insbesondere Erniedrigung und Qual der Vergewaltigung, die das `Genauso haben wir uns die Sieger vorgestellt!' bestätigen.

Es wird darüber geredet werden - gegenüber Pfarrern, Amtsärzten und Mediziner-Kommissionen, in zehntausenden von Anträgen auf Abtreibung.

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